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Mord? Das Wort, schon allein der Gedanke, ist nicht Teil meines Wortschatzes – zumindest nicht in Bezug auf meine Herrschaft über das Imperium. Wenn Tötungen nötig sind, ordne ich sie an. Das ist keine Frage der Legalität oder Moralität; in meiner Position ist es eine Frage der Notwendigkeit.
Alia Atreides
im siebten Monat ihrer Regentschaft
Gekleidet in eine strenge schwarze Robe, damit niemand sie erkannte, eilte Jessica durch eine volle, staubige Straße in Arrakeen. Es war früher Abend, und gelbes Licht aus schmalen, versiegelten Fenstern und zurückgesetzten Türen bildete kleine Pfützen auf dem Boden. Nach Einbruch der Dunkelheit frequentierten viele junge Leute diese Hauptstraße, manche, um einen Gang durch die Tavernen zu machen, während andere Gottesdienste in den zahllosen neuen Tempeln und Schreinen besuchten, die seit Pauls Tod aus dem Boden geschossen waren. Jessica umrundete die kleinen Menschenansammlungen, die die Eingänge zu ihren jeweiligen Lieblingslokalitäten verstopften.
Die vergangene Stunde hatte sie im kürzlich umbenannten Tempel zum Ruhme Muad'dibs verbracht, und jetzt war sie auf dem Rückweg zur Zitadelle. Der Tempel war das größte von mehreren Gebäuden seiner Art, die vor der Hochzeit nicht mehr ganz fertiggestellt worden waren. Alia selbst hatte eben dieses Gebäude ausgewählt, um es schnellstmöglich instandsetzen zu lassen, und ihren Bautruppen befohlen, rund um die Uhr zu arbeiten. Es war noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich, aber sie hatte darauf bestanden, dass ihre Mutter es sich heute ansah. Jessica bezweifelte, dass Paul einen derart pompösen Tempel gewollt hätte, der seinem Gedenken und seiner Legende gewidmet war.
Der zuständige Priester hatte ihr eine Privatführung gegeben, und Jessica hatte beeindruckt getan. Im Namen ihrer Tochter hatte sie dem heiligen Mann ein authentisches Artefakt Pauls übergeben – eine rote Kordel von einer Atreides-Uniform, die er als Junge getragen hatte. Der Priester hatte ihr stammelnd gedankt, während er die Klarplaz-Hülle mit dem Objekt in der Hand gehalten hatte. Er versprach, es in einem sicheren Reliquienschrein zu verwahren und es von nun an im Tempel auszustellen. Doch bevor Alia ihm die Kordel vermacht hatte, waren auf ihren Befehl hin Kopien davon hergestellt worden, damit diese zusammen mit anderen Artefakten verkauft werden konnten.
An einer Straßenecke vor sich sah Jessica einen rennenden Mann, der gegen die trockenen, braunen Gebäude stieß, während Schüsse erklangen. Ein kleiner, tieffliegender Polizeithopter bog dröhnend hinter ihm um die Ecke und spritzte Projektilfeuer auf ihn, dünne Nadeln, die im Abendlicht glänzten.
Schreiende Menschen stoben auseinander und rannten in Hauseingänge. Mehrere wurden von Querschlägern getroffen, da die meisten Städter keine Körperschilde trugen. Jessica huschte in einen Hauseingang und drückte sich mit dem Rücken an das Feuchtigkeitssiegel, als ein Schussregen die Stelle zerfetzte, an der sie sich eben noch aufgehalten hatte. Der Gejagte rannte an ihr vorbei und schnaufte wie ein überlasteter Motor. Einen Sekundenbruchteil lang starrte er sie an. Seine Augen waren schreckgeweitet, und dann sprang er wieder geduckt auf die Straße hinaus und rannte auf eine Menschengruppe vor einer Schänke zu.
Augenblicke später hörte sie noch einen Feuerstoß und weitere Thopter. Männer in den schwarzgrünen Uniformen von Alias Imperialer Garde stürmten brüllend vorbei; einige von ihnen grinsten wie Schakale auf der Jagd. Jessica spähte aus ihrer dürftigen Deckung und sah den glücklosen Mann bewegungslos in einer größer werdenden Blutlache liegen. Verschwendete Feuchtigkeit, die über das Pflaster floss.
Gemeinsam mit der sich sammelnden Menge von Schaulustigen trat Jessica leise vor. Eine Frau kniete schluchzend über der Leiche. »Ammas! Warum haben sie meinen Ammas getötet?« Sie starrte die entsetzten Zuschauer an, als könnten sie ihr Antworten geben. »Mein Mann war nur ein Ladeninhaber. Im Namen Muad'dibs, warum?«
Alias Wachen zerrten die Frau schnell beiseite und schoben sie auf den Rücksitz eines Bodenfahrzeugs, das davonfuhr.
Jessica marschierte wütend auf einen Offizier zu, der versuchte, die Menge um die blutende Leiche des Mannes herum zu zerstreuen. »Ich bin die Mutter Muad'dibs. Sie kennen mich. Erklären Sie mir Ihre Handlungen.«
Der Mann zuckte zurück, als er sie erkannte. »Mylady! Es ist nicht sicher für Sie, allein in die Stadt zu gehen. Es gibt gefährliche Elemente in den Straßen, Drohungen gegen die Regentin, Menschen, die Unruhe verbreiten.«
»Ja, ich sehe, wie unsicher es ist, insbesondere für diesen Mann dort. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Er wirkte völlig verblüfft. »Jede Person, die das Wort gegen das geheiligte Gedenken an Muad'dib richtet, wird festgenommen und strafverfolgt. Jeder Propagandist könnte mit Bronso von Ix unter einer Decke stecken. Wir tun das, um Ihren edlen Sohn und Ihre Tochter zu ehren, und ... und die gesamte Familie Atreides, Sie eingeschlossen.«
»Sie ehren mich nicht, indem Sie einen Mord begehen. Welche Beweise hatten Sie gegen diesen Mann?« Sie konnte noch immer den entsetzten Ausdruck und die Hoffnungslosigkeit auf dem Gesicht des armen Opfers sehen. »Wo ist der Verurteilungsbefehl, der von einem Gericht Arrakeens angeordnet wurde?«
»Wir haben versucht, ihn festzunehmen, und er ist geflüchtet. Bitte, Mylady, gestatten Sie, dass ich Sie zurück zur Zitadelle eskortiere. Die Imperiale Regentin Alia selbst kann Ihre Fragen viel besser beantworten als ich.«
Obwohl der Geruch von Blut und Gewalt an dem Wachmann klebte, war er nur ein Befehlsempfänger, ein Werkzeug in Alias Hand. »Ja, ich würde meine Tochter sehr gern unverzüglich sprechen.«
Alia trug einen weißen Morgenmantel, als sie an die Tür kam. Ihr langes Haar war nass. Es war nass, und sie ließ die Feuchtigkeit einfach an der trockenen Luft verdunsten. Luftreiniger an den Wänden und an der Decke fingen den Großteil der Feuchtigkeit wieder ein, aber diese laxe Wasserdisziplin überraschte Jessica trotzdem, selbst hier in der Festung.
Jessica blieb in der offenen Tür stehen und sagte: »Ich will wissen, warum deine Wachen heute Abend einen Mann auf der Straße niedergeschossen haben. Eine Frau – offenbar seine Ehefrau – hat gesagt, dass er ein einfacher Ladeninhaber war, und man hat auch sie mitgenommen.«
»Wahrscheinlich meinst du Ammas Kain? Ja, ich habe seinen Haftbefehl unterzeichnet und dabei die Formalitäten gewahrt. Er ist ein Abweichler, der Hass gegen mich schürt und meine Regentschaft destabilisiert.«
Jessica verschränkte die Arme und blieb unnachgiebig bei ihrer Position. »Und die Beweise?«
Alia wischte sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ein Exemplar eines abscheulichen neuen Manifests von Bronso wurde in seinem Rauchladen gefunden.«
»Der einfache Fund eines solchen Dokuments ist Grund genug, um ohne weitere Untersuchung seine Hinrichtung anzuordnen?« Jessica erinnerte sich daran, wie der Wayku an Bord des Heighliners unauffällig Bronsos Traktate an öffentlichen Orten ausgelegt hatte. »Von welchem Gericht?«
Alia versteifte sich. »Von meinem natürlich, weil ich das Gesetz bin. Hast du Bronsos neuestes Manifest gelesen? Statt seine Galle auf Paul zu beschränken, bezeichnet dieses neue Dokument mich und meinen Ehemann als ›Die Hure und den Ghola‹. Bronso nennt dich die ›Mutter alles Bösen‹ und behauptet, dass du so viele geheime Liebhaber hättest, dass niemand weiß, ob Herzog Leto wirklich Pauls Vater war.«
Jessica wich überrascht und verwirrt zurück. Bronso hatte das geschrieben? »Die ganze Zeit war es Bronsos erklärtes Ziel, die historischen Aufzeichnungen über meinen Sohn und seine Herrschaft geradezurücken. Warum sollte er sich zu Beleidigungen gegen dich und mich herablassen?«
»Warum sollte er irgendwelche weiteren Gründe brauchen? Er lebt, um Hass zu verbreiten.« Alia bat sie in ihre Gemächer und bot ihr mit Melange versetzten Tee an. »Ich bin froh, dass du bei mir bist. Die heutige Nacht wird besonders gefährlich. Viele Operationen sind im Gange.«
Jessica hörte Alarmsirenen von draußen. Sie durchquerte Alias Gemächer, die immer noch nach Badeöl und Feuchtigkeit rochen, und trat an ein hohes Fenster. Durch die Plazscheibe sah sie Flugmaschinen in ungewöhnlich großer Zahl über der Stadt. Die Scheinwerfer tanzten durch den Nachthimmel.
»Duncan kümmert sich um die Einzelheiten«, sagte Alia. »Ich hätte Gurney darum bitten können, ihn zu unterstützen, aber mein Mann war davon überzeugt, dass er die Sache allein regeln kann. Er ist so hingebungsvoll und loyal! Heute Nacht fließt in den Straßen Arrakeens das Blut derer, die uns hassen, und morgen wird unsere Stadt sehr viel sauberer sein.«
Jessicas Entsetzen mischte sich mit einer Spur Verblüffung. Als sie ihre Tochter ansah, kamen ihr die Ereignisse unwirklich vor. Mit einem weiteren Schaudern wurde ihr klar, dass Alia sie selbst zum instandgesetzten Tempel geschickt hatte, ohne sie vor der Gewalt zu warnen, die sich in Kürze entladen sollte. Wollte sie, dass ich da draußen bin? In Gefahr?
Kühl sagte Jessica: »Bronso hat jahrelang Schreckliches über deinen Bruder geschrieben, und doch hat Paul nie die Notwendigkeit zu derart extremen Reaktionen gesehen. Warum bist du so empfindlich?«
»Weil Bronso seine Schmutzkampagne auf die Imperiale Regentschaft ausgeweitet hat. Dementsprechend weite ich die Antwort aus.«
»Indem du so extrem reagierst, verleihst du seinen Worten eine Legitimation, die sie nicht verdienen. Ignoriere Bronsos Kritiken einfach.«
»Das würde mich schwach oder dumm erscheinen lassen oder beides. Meine Reaktion ist absolut angemessen.«
»Da bin ich anderer Meinung.« Jessica dachte darüber nach, in angemessener Weise auf die Stimme zurückzugreifen, um ihre Tochter in die Knie zu zwingen, aber das mochte einer Konfrontation zwischen ihnen Vorschub leisten. Alia war nicht wehrlos. Trotzdem wollte sie Alia dazu bringen zu erkennen, was sie tat. »Man nannte deinen Vater Leto den Gerechten. Bist du die Tochter deines Vaters oder etwas anderes? Ein Wechselbalg?«
Ohne Vorwarnung schlug Alia ihrer Mutter ins Gesicht. Es brannte.
Jessica sah die Bewegung und entschied sich, dem Schlag nicht auszuweichen. War das die bockige Antwort darauf, dass sie Alia wenige Wochen zuvor geschlagen hatte? Mit aller Gelassenheit, die sie aufbringen konnte, sagte Jessica: »Einen wahren Anführer, einen wahren Menschen erkennt man daran, dass er eine vernünftige Lösung für ein heikles Problem findet. Du hast aufgehört, das zu versuchen. Von hier aus verbreiten sich die Wellen, Alia. Alles hat Konsequenzen.«
»Du drohst mir?«
»Ich rate dir, und es wäre klug von dir, auf mich zu hören. Ich bin einzig und allein hier, um dir zu helfen – und ich werde es nicht mehr lange sein.« Jessica nahm ihre Würde zusammen und verließ das Zimmer.